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Die Schönheit des Hässlichen[]

– von Clynana Calesulea

im Jahr der Krone im Haus der Worte zu Taphan als Vorlesung gehalten

Meine lieben Schülerinnen und Schüler, teure Mitpoeten Taphanacs,

Ich möchte Euch zu Anfang einige kurze Kostproben aus dem poetischen Gut unseres Reiches liefern:

       Das rote Gold des sinkenden Gestirns
	  prachtvoll und kostbar, doch nicht zu erringen
	  Das Silber eines Sees im Mondenlicht
	  nicht zu besitzen, nur zu besingen.  (Gavon Therolei, ‘Unbezahlbar’)
	Schön bist du, Geliebte, deine Züge
	  sind sanft geformt von eines Meisters Hand
	  und laden ein, als unentdecktes Land
	  sie zu erforschen, zu entdecken	(Vadisa Herilea, ‘An die Geliebte’)
		        Du
		   knospende
	         du schönste Blume
	   gepflanzt in meinen Körper
	heranwachsend zu neuen Leben
 das sprießen soll und bald schon voll erblühen  
	mit Liebe werde ich dich ziehen
	         dir alle Pflege geben
		die du benötigst
		     dir Boden
		          sein        (Vadisa Herilea, ‘An mein Kind’)
	Schon fast vermodert, halb schon
	gesunken in die Erde, der du entsprungen
	Wer hat je dich besungen?
	Wer deine Pracht gepriesen?
	Ich will mir dich erkiesen
	zum Ziel all meiner Oden
	Schädel, halb schon im Boden.  (ETA, ‘An einen Schädel im Waldboden’)


Die Frage an Euch, meine teuren Schülerinnen und Schüler, ist hoffentlich einfach: Was haben all diese Werke gemeinsam? – Richtig: sie beschäftigen sich mit Schönheit! Nun die Frage für Fortgeschrittene: Welches der vier Gedichte sticht heraus, und warum? – Nun? Ich warte! – Absolut richtig: Zwar beschäftigen sich alle vier Gedichte mit Schönheit, doch das letzte, von Eurer Teuren Autorin verfasste, hat ein Objekt zum Thema, das man gemeinhin nicht eben mit Schönheit in Verbindung bringt.

Nun werdet Ihr fragen, ob ich dieses Werk wirklich ernst gemeint habe, ob ich ehrlich der Auffassung bin, dass ein im Waldboden vermodernder Schädel etwas Schönes an sich haben kann – oder ob ich nur die alteingesessenen Poeten Taphanacs habe erschrecken wollen. Die Antwort ist: Ja, ja und ja! Natürlich wollte ich erschrecken und provozieren (und wer unter Euch sich an Reaktionen auf die Veröffentlichung in den Poetischen Rollen vor einigen Jahren erinnert, der weiß, dass ich dies auch geschafft habe. Der gute Yantawon hätte mir am liebsten die Lehrbefugnis entzogen, glaube ich. Ja, ich wollte den Poeten Taphanacs klarmachen, dass ihre Bilder und Vergleiche für Schönheit überbeansprucht sind, dass sich Poesie nur weiterentwickeln kann, wenn man nach neuen Formen und neuen Inhalten sucht. Sonne und Mond, Frauenkörper, Kinder, Blumen und so fort – alles gut und schön als Themen für Oden und Odnarizte, aber DAS KANN DOCH NICHT ALLES SEIN! Das habe ich damals klarmachen wollen.

Habe ich aber nur provozieren wollen? Nein! Ich denke, wer sich offene Augen und einen offenen Geist erhält – und nur der, der das tut, kann auf die Dauer ein guter Dichter sein – der wird feststellen, dass auch das Hässliche seine eigene Schönheit birgt.

Nehmen wir den Schädel eines Tieres, der modernd im Waldboden versinkt: Was ist daran schön? Das Wirken der Natur, der Kreislauf des Werden und Vergehens. Aus dem Wald kommen wir, und ihm werden wir wieder zugeführt. Das ist nicht nur richtig und gut so, das ist schön! Ich habe diesen Kadaver damals alle drei Tage aufgesucht, über einen Zeitraum von zwei Monden hinweg. Jedes Mal, wenn ich ihn wiedersah, war er seiner vollständigen Wiederaufnahme in den Wald wieder etwas näher gekommen. Jedes Mal, wenn ich ihn aufsuchte, kniete ich staunend und ehrfürchtig vor dem Werk des Waldes, der die Seinen wieder zu sich holt.

Aus dem selben Grunde ist auch ein Tier, das ein anderes reißt, schön. Hat jemand von Euch schon einmal ein Raubtier gesehen, das seine Beute zur Strecke bringt? Es ist ein erhabener Anblick, glaubt mir!

Ich könnte noch weitere Beispiele anführen, die Euch aber wahrscheinlich zu empfindlich treffen würden; es ist auch nicht meine Sache, Euch zu sagen, wo genau Ihr nach den anderen Kleidern der Schönheit suchen sollt. Ich sage Euch nur: Öffnet Eure Augen, streift die Schleier Eurer hergebrachten Wahrnehmung ab, und nicht nur Euer Leben wird reicher werden, sondern auch Taphanacs Dichtung. Denn nichts ist der Poesie tödlicher, als ewige Wiederholung. Sucht, schaut und beschreibt das Neue, das Andere – und, wo wir schon einmal dabei sind, beschreibt es in neuen Formen! Ich habe nichts dagegen, dass man den Schülern das Odnarizt beibringt, die verschiedenen Arten des Reimes und den Fluss der Betonungen. Aber wer immer nur in den klassischen Formen hängenbleibt, der ist Kopist, kein Dichter. Ich danke Euch!

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